In der staatlichen Psychiatrie von Moskau starb am 03.11.2007 ein deutscher Patient. Als die Psychiatrie im Jahre 2010 wegen Baufälligkeit und leerer Staatskassen geschlossen wurde, fand eine Gruppe spielender Kinder unter einer Steinplatte ein kleines Tagebuch. Einer der Jungen gab es seinem Vater und dieser schickte es einem Freund, einem Ex-KGB-Argenten. Das Tagebuch tauchte nie wieder auf.
Als der Junge der das Tagebuch gefunden und die Geschichte heimlich abgeschrieben hatte, seine Geschichte in der örtlichen Schülerzeitung veröffentlichte, starb er zwei Tage später bei einem Autounfall. Sein Vater stab am selben Tag an Alkoholvergiftung. Die Leute vermuteten das er aus Kummer zuviel Wodka getrunken hatte.
Die Geschichte in der Schülerzeitung war folgende:
Dies ist eine wahre Geschichte. Ich weiss selber, dass sie kaum zu glauben ist, doch sie ist wahr.
Es passierte vor drei Tagen im tiefsten Sibierien, während meiner Weltreise. Ich hatte mein Abitur beendet und wollte mir ein Jahr lang eine Auszeit gönnen. Mit meinem gesparten Geld begann ich eine abenteurliche Reise ohne große Planung. Ich wollte nur so viel wie möglich von der Welt sehen.
Meine ersten Stationen waren Warschau, Kiew und Moskau. Wünderschöne Städte mit viel Kultur und Vergangenheit. Die Reise führte mich weiter nach Petropavlovsk, eine Stadt die in Kasachstan liegt. Von da aus ging es weiter nach Novosibirsk. In Zigansk mußte ich dann in einen Regionalzug umsteigen. Man sagte mir, dass er durch ein kaum besiedeltes Gebiet fahren würde. Tatsächlich war der erste Bahnhof, an dem wir hielten, menschenleer. Auch im Zug herrschte eine sehr stille Atmosphäre, obwohl mein Wagon gut gefüllt war. Die meisten Passagiere waren ältere Menschen.
Am nächsten Bahnhof stieg ein sehr merkwürdige Gruppe zu uns in den Zug. Sie wirkten auf mich wie Pfadfinder. Es waren acht Leute. Drei Männer, die ich knapp unter Dreißig schätzte, vier Frauen Mitte Zwanzig und ein kleiner Junge, höchstens Acht. Sie hatten alle eine Art Uniform an und trugen rote Halstücher. Die Frauen hatten Zöpfe und die Männer kurzes scharzes Haar.
Als sie einstiegen, entstand im Zug ein kleiner Tumult. Die Einheimischen schimpften und einige bespuckten die Gruppe. Ich verstand nicht, warum.
Die acht jungen Leute reagierten nicht, sondern starten stumm auf den Boden. Die Menschen im Zug hielten Abstand zu ihnen während sie weiter schimpften und spuckten. Immer wieder wurde ein russisches Wort gerufen, welches ich nicht verstand. Deshalb holte ich mein Russisch-Wörterbuch aus meinem Rucksack. Auf dem Bahnsteig war sonst niemand und die Zugtüren standen noch immer offen. Anscheinend hielt der Zug hier etwas länger.
Ich war gerade am Blättern, als ein Gegenstand an mir vorbeiflog und den kleinen Jungen der Gruppe traf. Er zuckte mit dem Kopf, aber rührte sich nicht. Offenbar hatte ein Zuggast ihn mit irgendetwas beschmissen.
Langsam wurde ich wütend, denn mir tat die Gruppe leid, die anscheinend von den restlichen Leuten im Zug gehasst wurden, warum auch immer. Ich näherte mich dem Jungen und wollte ihn über den Kopf streicheln.
Jetzt wurde es richtig laut im Zug. Ich hörte die Worte „njet“, „stoi“ und „astaroschna“ die russischen Worte für „Nein“, „Stop“ und „Vorsicht“ und blankes Entsetzen der restlichen Fahrgäste. Erschrocken wollte ich gerade meine Hand zurückziehen, aber da hatte ich das Haar des Jungen schon berührt. Er warf blitzartig seinen Kopf nach oben und biss mir in die Hand. Sein Gesicht hatte sich zu einer Fratze verzogen und sein Gebiss sah aus wie von einem Haifisch. Ich zog meine Hand an meine Brust. Sie blutete stark.
Im Zug brach Panik aus, alles schrie und drückte sich gegen die Fenster, die gegenüber der Tür lagen. Eine alte Frau bekreuzigte sich und eine andere fing an zu heulen.
Der kleine Junge sah mich mit seiner hässlichen Fratze und seinen Haifischzähnen grierig an. Auch die anderen seiner Gruppe verzogen das Gesicht zur Fratze und lange spitze Kandibalenzähne kamen zum Vorschein.
In diesem Moment schlossen sich die Türen des Zuges. Ich sprang.
Um Haaresbreite flog ich aus dem Zug, bevor sich die Türen geschlossen hatten und fiel hart auf den Steinboden. Sogleich drehte ich mich und sah entsezt, was im Zug passierte. Die Gruppe mit den Pfadfinderklamotten fiel über die anderen Fahrgäste her. Blut spritzte gegen die Scheiben und ich hörte Todesschreie. Die Fahrgäste wurden in wilder Raserei regelrecht abgeschlachtet, während sich der Zug langsam in Bewegung setzte.
In all dem Chaos stand der kleine Junge an der Tür und starrte mich an. Sein Gesicht war nun wieder das eines kleinen niedlichen Kindes, obwohl ihm Blut am Kinn entlang lief.
Mein Blut.
Wie gebannt schaute ich ihm hinterher, während der Zug den Bahnhof verlies, bis er irgendwann aus meinem Sichtfeld verschwand.
Ich war allein auf dem Bahnhof. Ich schaute mich, immer noch voller Angst um. Doch ich war wirklich allein. Das Russisch-Wörterbuch hielt ich noch immer in der Hand. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, schaute ich nach, was das für ein Wort war, mit der die Fahrgäste die Gruppe beschimpft hatte. Mir lief es eiskalt den Rücken runter, als ich das Wort „Menschenfresser“ las.
In den russischen Zeitungen wurde zwei Tage später nur erwähnt, das ein Zug von Terroristen überfallen wurde und sämtliche Fahrgäste getötet wurden. Niemand erwähnte etwas von Menschenfressern oder Kanibalen. Niemand. Aber ich weiß es besser, denn meine Geschichte ist die Wahrheit. Ich habe sie erlebt.
PS: Ich werde meine Geschichte den örtlichen Behörden in Zigansk melden. Die müssen unbedingt erfahren, was wirklich mit dem Zug passiert ist. Zur Sicherheit habe ich die Story mit meinem Wörterbuch auf russisch übersetzt und auch in mein Tagebuch geschrieben. Ich werde es aber erstmal in meiner Jacke verstecken. Im Jackenfutter wird es sicher niemand sofort finden.
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